Internet der Tiere
Verhaltensforschung ist bis heute Knochenarbeit. Schimpansenforscher in Afrika zum Beispiel müssen jeden Tag stundenlang durch dichten Regenwald marschieren. Nur wenn sie pünktlich bei Sonnenaufgang an den Schlafnestern einer Schimpansengruppe eintreffen, können sie die Tiere den Tag über begleiten und ihr Verhalten dokumentieren. Jeden Abend geht es dann wieder zurück ins Camp, und das wochenlang.
Auch wenn nicht jede Tierart so schwer zu beobachten ist – wer die natürlichen Verhaltensweisen von Tieren kennenlernen will, muss viel Ausdauer, körperliche Fitness und Geduld mitbringen. Die moderne Telemetrie – also das Sammeln und Auswerten von Daten mittels Sendern – kann diese mühsame und zeitraubende Vorgehensweise weitestgehend überflüssig machen. Für die Verhaltensforschung und die Ökologie ist dies eine Revolution, und Icarus ist ein Teil davon!
Künftig werden die Sender den Wissenschaftlern vieles von dem verraten, was sie früher nur durch stundenlanges Beobachten erfahren haben. Während die Sender die Daten aufzeichnen und in Echtzeit über Satelliten versenden, sitzt der Forscher unter Umständen tausende von Kilometern entfernt in seinem Forschungslabor und kann sofort mit der Auswertung der Messergebnisse beginnen.
Icarus soll aber die Verhaltensforschung und die Ökologie nicht nur angenehmer für die Forscher machen, die Fortschritte in der Telemetrie erlauben ganz neue Einblicke in die Natur. Erstmals wird es möglich sein, Ort und Bewegungen eines Tieres festzustellen – und das in Echtzeit und in großem Stil mit tausenden von Tieren.
Ein Beispiel: Zugvögel. Viele Vogelarten ziehen Jahr für Jahr rund um den Globus. Jahrzehntelang haben Vogelforscher Jungvögel beringt und darauf gehofft, den ein oder anderen von ihnen später wieder zu finden. Dadurch wissen wir immerhin in Einzelfällen, wohin und auf welcher Route manche Vögel ziehen. Auch dass die Todesrate auf den Reisen hoch sein muss, lässt sich anhand der wenigen wiedergefundenen Ringe schließen. Wir wissen aber nicht genau, wie viele Tiere tatsächlich sterben und wo und warum sie ums Leben kommen. Ganz zu schweigen von den vielen Arten, von denen die Flugwege gar nicht bekannt sind.
Die moderne Telemetrie wird viele dieser Wissenslücken schließen. Forscher haben beispielsweise Kuckucke (Cuculus canorus) aus Dänemark und Südschweden mit Minisendern ausgestattet und mit dem satellitengestützten Ortungssystem Argos über ein Jahr hinweg verfolgt. Drei der Vögel konnten die Forscher auf ihrem 16.000 Kilometer langen und zehn Monate dauernden Rundflug nach Zentralafrika und wieder zurückverfolgen und dabei erstaunliche Erkenntnisse gewinnen. Mit Icarus wollen Ornithologen künftig noch mehr Tiere – vor allem kleinere Arten – auf ihren Reisen begleiten.
Von anderen Tieren ist gar nicht bekannt, dass sie überhaupt wandern. Bei manchen Arten wandern wiederum nur einzelne Individuen. Häufig sind das Jungtiere. Telemetrische Untersuchungen haben enthüllt, dass auch große Landraubtiere wie Pumas und Jaguare große Strecken zurücklegen. Einzelne Tiere wandern zwischen voneinander getrennten Lebensräumen hin und her und tragen so zum Genaustausch zwischen verschiedenen Populationen bei – eine wichtige Erkenntnis, die Wissenschaftler berücksichtigen müssen, wenn sie die Überlebensfähigkeit dieser Populationen beurteilen wollen.
Das Bewegungsmuster von Tieren lehrt die Forscher auch, wie ein Organismus sein Ökosystem beeinflusst – sei es als Pflanzenfresser, Raubtier oder als Parasit. Manche Tiere dienen auch als Transportvehikel. In ihrem Fell oder Gefieder haben sie blinde Passagiere im Gepäck: Pflanzensamen, Insekten, Fisch- oder Amphibienlaich. Andere wie die Palmenflughunde in Ghana transportieren auf ihrem täglichen Flug von ihren Fress- zu den Schlafplätzen Pflanzensamen in ihrem Darm. Bis zu 400 Kilometer kann ein Flughund in einer Nacht zurücklegen. Forscher vermuten, dass bis zu 96 Prozent der Bäume im afrikanischen Regenwald aus den Ausscheidungen der Flughunde hervorgegangen sind.
Ähnliches kennt man von Nagetieren wie den Agoutis im südamerikanischen Regenwald oder den Fettschwalmen, einem Vogel aus Venezuela. All diese Arten leisten für ein funktionierendes Ökosystem unverzichtbare Dienste – „ecosystem services“ nennen Ökologen solche Dienstleistungen. Bislang kennen Wissenschaftler nur einen Bruchteil davon, weil über die Bewegungsprofile der meisten Arten zu wenig bekannt ist.
Moderne Telemetrie-Systeme wie Icarus decken aber nicht nur Bewegungen und Wanderrouten auf, sie können inzwischen viel mehr. Die Sender sammeln neben Orts- und Bewegungsdaten auch Informationen über die körperliche Verfassung eines Tieres. Dazu zählen beispielsweise Körpertemperatur, Blutdruck, Puls oder sogar Zucker- und Sauerstoffgehalt des Bluts. Minikameras können weitere Details verraten, zum Beispiel was ein Tier frisst oder wie viele Junge es hat.
Das sind zwar weit mehr Informationen, als für die meisten Tierarten heute existieren. Trotzdem enthüllen sie nur einen Teil ihrer Lebenswelt. Deshalb wollen Wissenschaftler ihre Daten mit Messungen der Umweltbedingungen des Tieres kombinieren. Sie entwickeln dafür Sender für die Telemetrie, die auch die Umgebungstemperatur, Luftdruck, Wind- oder Strömungsgeschwindigkeiten messen können. Zusammen mit Satellitenaufnahmen und den Daten von Wetter- und anderen Messstationen vervollständigt sich so unser Wissen vom Leben der Tiere.