Leben auf Sparflamme

Amseln fahren den Energieverbrauch vor ihrer Reise in den Süden herunter und sparen damit mehr Energie, als sie für den Flug verbrauchen

15. September 2024

Millionen von Vögeln ziehen jedes Jahr in wärmere Klimazonen, um dem nahenden Winter zu entfliehen, doch neue Forschungen des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie zeigen, dass der Aufenthalt dort ihnen keine Energieeinsparungen bringt. Mithilfe von miniaturisierten Sendern haben die Forschende erstmals die Herzfrequenz und Körpertemperatur freilebender Amseln während des gesamten Winterhalbjahrs in Europa gemessen. Die Ergebnisse enthüllen einen zuvor unbekannten Mechanismus, dank dessen Zugvögel vor ihrem Abflug Energie sparen.

„Wir hätten nie erwartet, dass Vögel durch die Vermeidung kalter Winter am Ende keinen Energievorteil erzielen“, sagt Nils Linek, Erstautor der Studie und Forscher am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. „Über viele Jahre war es gängige Lehrbuchmeinung, dass Tiere insgesamt weniger Energie verbrauchen, wenn sie in wärmere Gebiete ziehen. Doch unsere Ergebnisse zeigen, dass sich die Einsparungen nicht aufsummieren. Vielmehr ist die Energiebilanz der Zugstrategie weitaus komplexer und interessanter, als die klassische Lehrbuchtheorie es vorhergesagt hat.“

Die Tierwanderung ist ein spektakuläres Beispiel dafür, wie sich Tiere an den Wechsel der Jahreszeiten anpassen. Welche Vorteile die Wanderungen genau bieten, blieb lange Zeit ein Rätsel, denn die Körpervorgänge freilebender Tiere lassen sich über lange Zeiträume hinweg nur schwer untersuchen. In der neuen Studie haben Forschende des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie und der Yale University ein wichtiges Puzzleteil aufgedeckt. Mit Sensoren konnten sie den Energieverbrauch von Amseln vom Herbst bis zum nächsten Frühjahr durchgehend messen und anschließend den Wärmehaushalt berechnen.

Verringerter Stoffwechsel vor der Reise

Den Daten zufolge sparen Amseln viel Energie ein, indem sie ihren Stoffwechsel 28 Tage vor dem Beginn ihrer Reise reduzieren. Dies könnte die Energiekosten des eigentlichen Fluges selbst weit übertreffen. „Sie drehen im Wesentlichen ihr internes Thermostat herunter, um Energie für die bevorstehende Reise zu sparen“, sagt Linek. In wärmeren Überwinterungsgebieten scheint der Energieverbrauch der Zugvögel jedoch trotz der erheblich geringeren Kosten für die Wärmeregulation nicht geringer zu sein. „Das hatten wir nicht erwartet“, sagt Scott Yanco, Co-Erstautor der Studie von der Yale University. „Berechnungen hatten vorausgesagt, dass die Zugstrategie aufgrund der niedrigeren Kosten für das Warmhalten in milderen Klimazonen einen erheblichen Energieüberschuss erzeugen sollte.“

Wo bleibt also dieser Überschuss der Zugvögel? Nils Linek sagt dazu: „Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Vermutlich gibt es es andere Anpassungen oder bisher unbekannte Kosten, mit denen Zugamseln an ihren milderen Überwinterungsstandorten konfrontiert sind. Dazu könnte gehören, dass die Vögel in einer neuen Umgebung wachsamer sein müssen oder ihr Immunsystem stärker beansprucht wird. Möglicherweise gibt es auch noch andere unbekannte Stressfaktoren, die den Wärmevorteil zunichte machen.“​

Nur ein Teil der Amseln zieht gen Süden

Das Team arbeitete mit Amseln in Süddeutschland, die wie viele europäische Singvogelarten „teilziehend“ sind. Das bedeutet, einige Individuen verbringen den Winter in milderen Regionen wie Spanien und Frankreich, andere bleiben das ganze Jahr über in den kälteren Brutgebieten. Für die Studie implantierten die Forschenden 120 Amseln Miniatur-Messgeräte zur Messung von Herzfrequenz und Körpertemperatur und zeichneten mithilfe von Sendern die Aktivität und Überwinterungsstrategie der Vögel auf. Insgesamt haben sie auf diese Weise etwa eine Million Messungen vorgenommen und diese anschließend zwischen den verschiedenen Überwinterungsstrategien verglichen. „So konnten wir mit unglaublicher Genauigkeit verfolgen, wie Vögel den Zug erleben - vom eigentlichen Flug über die anschließende Erholungsphase bis hin zu dem, was sie vor Ort im Überwinterungsgebiet tun“, sagt Tamara Volkmer, Mitautorin der Studie und Doktorandin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie.

Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass die Risiken und Herausforderungen der Zugstrategie bei Singvögeln nicht durch Energieeinsparungen in wärmeren Klimazonen ausgeglichen werden. Dies wirft neue Fragen zu den evolutionären Treibern des saisonalen Vogelzugs auf. Die Studie hat auch Auswirkungen auf die Vorhersage, wie verschiedene Arten auf zukünftige Klimaszenarien reagieren könnten. Der leitende Wissenschaftler Jesko Partecke, Gruppenleiter am Max-Planck-Institut, der seit zwei Jahrzehnten die Amselwanderung erforscht, sagt: „Wenn wir die physiologischen Grundlagen der Migration verstehen, können wir auch besser vorhersagen, welche Arten sich anpassen, welche ihre Zugmuster ändern und welche mit größeren Herausforderungen zu kämpfen haben werden, wenn sich die Welt weiter erwärmt.“

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